Es gab doch auch gute Pflegeplätze?

Spielzeugente
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Ob es früher nicht auch Pflegeplätze gab, an denen es Kindern und Jugendlichen gut ging, ist eine Frage, die immer wieder gestellt wird. Die Antwort ist: Ja, es gab auch gute Pflegeplätze, aber leider viel zu wenige.

Mit jeder neuen Studie und jedem erzählten Lebensbericht verdichtet sich das Bild für die Schweiz: Missstände in Heimen und an Pflegeplätzen waren keine Ausnahme, sondern stellten eher die Regel dar. 

Schwarz-Weiss-Fotografie eines kleinen Kindes, welches sich am Rockzipfel einer erwachsenen Frau festhlält. Es handelt sich dabei um ein Pflegekind und seine Pflegemutter, aufgenommen wurde das Bild von Walter Studer im Emmental, 1954. Im Hintergrund sind die Wände eines Holzhauses zu sehen, im Vordergrund steht ein Puppenwagen.
Pflegekind und Pflegemutter im Emmental, 1954. Bild in einer Reportage für die "Schweizer Illustrierte Zeitung". Bild: Walter Studer. Quelle: 242162758 (RM), © Keystone sda.

Mit einer Fremdplatzierung erhöhte sich das Risiko, von Gewalt, Ausbeutung, Missbrauch, erneuter Platzierung und Entwurzelung betroffen zu sein. Die Kinder und Jugendlichen waren an den Pflegeplätzen häufig von der Aussenwelt abgeschnitten, hatten keine stabilen sozialen Beziehungen und befanden sich in einem ausgeprägten Abhängigkeitsverhältnis. Oft waren sie vorverurteilt: Kamen sie in ein Heim oder in eine «Erziehungsanstalt», haftete ihnen schon beim Eintritt das Etikett an, «schwierig» zu sein. Dennoch gab es auch Plätze, an denen Kinder und Jugendliche positive Erfahrungen machten.

Schwarz-Weiss-Fotografie eines erwachsenen Mannes und Kindern an einem Tisch. Der Mann steht, die Kinder sitzen am Tisch und basteln. Es handelt sich dabei um die Pflegekinder und den Pflegevater einer Pflegekindergrossfamilie um 1950.
Ein Pflegevater einer "Pflegekindergrossfamilie" bastelt mit Kindern. Um 1950. Bild: Theo Frey. Quelle: 2007.55.037, © Fotostiftung Schweiz.

Positive Erfahrungen

So berichten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen etwa, dass es ihnen am Pflegeplatz besser ging als zu Hause. Denn nicht vergessen werden darf: Auch in der eigenen Familie kam und kommt es bis heute zu Gewalt und Vernachlässigung von Minderjährigen. Ein Pflegeplatz konnte eine belastende Situation verbessern und das Wohlergehen eines Kindes schützen. Einige Betroffene erinnern sich, dass sie an ihrem Pflegeplatz eine zugewandte Erziehung und Liebe erhielten, dass sie spielen und eine gute Ausbildung machen konnten. Manche wurden auch später noch von ihren Pflegeeltern unterstützt. Sicher ist, dass dies von Pflegefamilien viel Zeit, Kraft und Zuwendung verlangte. Von Seiten des Staats erhielten Pflegeeltern kaum Unterstützung.

Es gab auch Kinder und Jugendliche, die in Heimen gute Erfahrungen machten. Im Rückblick berichten sie als Erwachsene etwa von einer stabilen Beziehung zu einem Gruppenleiterpaar, dass sie Freizeit hatten und eine fördernde Schulbildung erhielten. Viele Betroffene berichten zudem, dass sie auch ausserhalb von Institutionen Menschen begegneten, die ihnen Wertschätzung entgegenbrachten. Sie schildern beispielsweise, wie eine Fürsorgerin oder eine Betreuungsperson sie in einem entscheidenden Moment ernst nahm, ihnen zuhörte und an sie glaubte. Während das übrige Umfeld den Kindern und Jugendlichen häufig vermittelte: «Du bist nichts, du kannst nichts, aus dir wird nichts werden», halfen diese Menschen ihnen, Vertrauen in sich selbst zu fassen, richtige Entscheidungen zu treffen und buchstäblich zu überleben.

Zeitgeist als Argument greift zu kurz

Schwarz-Weiss-Fotografie von Frauen, Männern und Kindern, die in eleganter Kleidung stehend und auf einer Bank sitzend für ein Foto posieren. Es handelt sich dabei wohl um Personal sowie "Zöglinge" der Erziehungsanstalt für Knaben in Sonvilier. Die Fotografie wurde 1914 an der Landesausstellung in Bern gezeigt und dokumentierte die Arbeit der Direktion für Armenwesen des Kantons Bern.
Erziehungsheim für Knaben Sonvilier. Gezeigt an der Landesausstellung 1914 zur Illustration der Direktion für Armenwesen des Kantons Bern. Bild: unbekannt. Quelle: Staatliche Erziehungsanstalten: Maison d'éducation pour garçons Sonvilier. Zitierung: Staatsarchiv des Kantons Bern, StABE T.1091, Band 2, Bildnummer 70.

Diese Bandbreite an Erfahrungen zeigt, dass eine gewaltfreie und kindgerechte Erziehung auch damals möglich war. Das häufig vorgebrachte Argument, es habe keine Alternative zu gewalttätigen Erziehungsformen gegeben, greift daher zu kurz. Wer sich auf den damaligen Zeitgeist beruft, um Missstände in Institutionen und Pflegefamilien als alternativlos darzustellen, verharmlost die Geschichte der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen. Zwar fehlten vielen Heimen die Mittel, um genügend und qualifiziertes Personal anzustellen, was zu einer Überforderung der Mitarbeitenden führte. Doch auch unter diesen Bedingungen lässt sich weder das Ausmass der Gewalt rechtfertigen noch die von vielen Heimleitungen mitgetragene Erziehungskultur, die von Drill, Demütigung und teils massiven Übergriffen geprägt war.