Wissenschaftliche Aufarbeitung

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Die Forschung ist ein zentraler Bestandteil der Aufarbeitung und ein wichtiges Anliegen von Betroffenen. Sie zeigt, warum es fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen gab, wer sie anordnete und wie sie umgesetzt wurden. Die wissenschaftliche Aufarbeitung trägt dazu bei, das erlittene Unrecht und seine Folgen zu verstehen.

Farbfotografie einer Podiumsdiskussion mit 5 Teilnehmenden und Moderatorin. Es handelt sich um den Abschlussanlass des Nationalen Forschungsprogramms NFP 76 "Fürsorge und Zwang" des Schweizerischen Nationalsfonds SNF, 24.05.2024.
Podiumsdiskussion an der Abschlussveranstaltung des Nationalen Forschungsprogramms NFP 76 "Fürsorge und Zwang" des Schweizerischen Nationalfonds am 24. Mai 2024. Bild: Marco Finsterwald. Quelle: 225 NFP76, Marco Finsterwald Fotografie, A7 V2567.

Kritischer Blick auf fürsorgerische Zwangsmassnahmen

Bereits früh im 20. Jahrhundert wurden wissenschaftliche Arbeiten zu fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen publiziert. Diese betrachteten die Betroffenen jedoch meist nur als Objekte und dienten vielfach dazu, die angewandten Zwangsmassnahmen zu rechtfertigen. Erst seit den 1980er-Jahren untersuchen wissenschaftliche Studien solche Massnahmen kritisch. Heute beschäftigen sich verschiedene Disziplinen damit: von der Geschichte und den Sozialwissenschaften über die Soziale Arbeit bis hin zur Psychologie und den Rechtswissenschaften. Die Perspektiven und Erfahrungen der Betroffenen gelten dabei als wichtige Expertise und fliessen in die Forschung ein. Partizipative Ansätze gewinnen an Bedeutung. Betroffene wirken aktiv am Forschungsprozess mit und unterstützen zum Beispiel die Entwicklung von Fragestellungen.

Unterschiedliche Forschungsfelder

Die Forschung zu fürsorgerischen Zwangsmassnahmen konzentriert sich oft auf bestimmte Gruppen von Betroffenen. So wurde bereits früh untersucht, wie das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» der Stiftung Pro Juventute in das Leben jenischer Familien eingriff. Ein eigenes Forschungsfeld bildeten Studien zu Eugenik und Zwang in der Psychiatrie und im Vormundschaftswesen. Später rückten Themen wie das Verdingkinderwesen, die Heimerziehung oder die administrative Versorgung Erwachsener in «Arbeitsanstalten» in den Fokus. Heute werden weitere Bereiche erforscht, darunter Unterbringungen in «Armenhäusern», inländische und internationale Zwangsadoptionen oder die Folgen des Saisonnierstatuts für Familien und ihre Kinder.

Farbfotografie von zwölf Kleinkindern nebeninander in Bettchen. Die Kinder sind festgebunden und zwischen den Bettchen sind Stoffe hochgezogen, die verhindern, dass die Kinder sich sehen. Aufnahme aus den 1960er-Jahren.

Kleinkinder auf der Terrasse des Heims Alpenblick in Hergiswil.

Es gab wenig Personal und sehr viele Kleinkinder zu betreuen. Die Pflegeschwestern und die Pflegeschülerinnen versuchten ab den 1960er-Jahren, Erkenntnisse der Forschung des "Instituts für Psychohygiene im Kindesalter", 1957 gegründet von der Kinderpsychiaterin und Kleinkindforscherin Marie Meierhofer, umzusetzen und die Betreuungsbedingungen zu verbessern.

Bild: Privatbesitz. Quelle: Privatbesitz.

Schwarz-Weiss-Fotografie einer Frau mit Kind vor einem Wohnwagen. Das Kind ist im Kinderwagen. Im Hintergrund ist Wäsche am Trocknen, im Vordergrund steht ein kleiner Tisch mit einem Blumenstrauss.

Jenische Mutter mit Kind

Der staatliche Eingriff in jenische Familien mithilfe des "Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse" der Stiftung Pro Juventute war massiv. Diese Eingriffe wurden von der Forschung schon früh untersucht.

Schwarz-Weiss-Fotografie eines Zimmers in einer psychiatrischen Klinik um 1948. Es sind mehrere Metallbetten zu sehen, in dreien liegt jemand, die Personen haben den Kopf abgewandt.

Innenansichten der psychiatrischen Klinik Waldau oder Münsingen 1948

Das Bild wurde vermutlich 1948 von Walter Nydegger für den Berner Regierungsrat aufgenommen. Die Forschung zur Geschichte der Psychiatrie stellt ein wichtiges Forschungsfeld der Aufarbeitung fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen dar.

Schwarz-Weiss-Fotografie von drei Jungen. Zwei tragen Säcke mit Kartoffeln, einer trägt einen leeren Metallkorb. SIe gehen auf einem Feldweg. AUfenommen 1941 im Entlebuch, Romoos.

Kartoffelnsetzen im Entlebuch, Romoos, 1941

Verding- und Heimkinder mussten oftmals schwere Arbeit leisten und erlebten häufig Gewalt, Ausbeutung und Vernachlässigung. Die interdisziplinäre Forschung zur Geschichte dieser Kinder ist sehr breit aufgestellt.

Seit etwa 2010 kamen regionale Studien zu einzelnen Kantonen und Gemeinden hinzu. Auch verschiedene Institutionen begannen verstärkt, ihre eigene Vergangenheit wissenschaftlich aufzuarbeiten. Auf nationaler Ebene lief bereits zwischen 2003 und 2007 das Nationale Forschungsprogramm NFP 51 Integration und Ausschluss, das sich mit gesellschaftlichen Ausgrenzungsprozessen beschäftigte, die auch bei fürsorgerischen Zwangsmassnahmen wirkten. Später untersuchte die Unabhängige Expertenkommission (UEK) von 2014 bis 2019 administrative Versorgungen, also ausserstrafrechtliche Versorgungen in «Arbeits-» und anderen «Anstalten». Daran knüpfte das Nationale Forschungsprogramm NFP 76 Fürsorge und Zwang (2017–2024) an, das sich unter anderem mit den langfristigen Folgen zwangsfürsorgerischer Massnahmen sowie der heutigen Anwendung von Zwang im Sozialbereich befasste. Auch die Landeskirchen haben begonnen, ihre Beteiligung an den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen aufzuarbeiten.

Bedeutung der wissenschaftlichen Aufarbeitung

Die Forschung zu fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen zeigt, auf welche Weise diese Massnahmen bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts fester Bestandteil der schweizerischen Sozialpolitik waren. Für das 19. und 20. Jahrhundert wird von mehreren Hunderttausend Betroffenen ausgegangen.

Wissenschaftliche Studien sind ein zentraler Bestandteil gesellschaftlicher Aufarbeitung. Sie liefern die empirischen Grundlagen für politische Anerkennung und tragen zur Veränderung des kollektiven Gedächtnisses und einer Erinnerungskultur bei, die alle einschliesst. Zudem hinterfragen sie traditionelle Geschichtsbilder und relativieren Vorstellungen einer besonders fortschrittlichen und demokratischen Schweiz. Nicht zuletzt wirft die Forschung immer wieder neue Fragen auf. Sie beleuchtet Themen aus veränderten Blickwinkeln und regt mit ihren Antworten an, den Rechtstaat sowie die heutige Praxis im Sozialbereich und im Kindes- und Erwachsenenschutz kritisch zu reflektieren.